„Ich zähle die nationalen Regierungen zu den inneren Feinden der europäischen Einigung“
VON SIMON NEHRER und MORITZ PAIL
Herr Voggenhuber, wie geht es Europa heute?
Mäßig. Nicht weit vom Abgrund entfernt. Wir haben ja viele Jahre eine Gewissheit gehabt: Das Erreichte ist nicht in Gefahr. Vielleicht kommen wir einmal nicht voran. Vielleicht gibt es grobe Schwierigkeiten, Schritte nach vorne zu machen. Aber die Integration ist irreversibel, hat man immer gesagt. Das ist heute nicht mehr so: mit dem Brexit, mit der Rechten, mit den Nationalisten. Die blasen zum Marsch auf Brüssel am 26. Mai. Die anderen politischen Parteien, die Öffentlichkeit und die Medienkräfte versuchen zu meinem großen Erstaunen, diese Gefahr immer noch herunterzuspielen. Sie tun so, als wäre das letztlich alles noch normal. Diese Normalität sehe ich überhaupt nicht. Ich habe Farage und Konsorten im Parlament vor mir gehabt. Die haben einen Zerstörungs- und Machtwillen, der wirklich bedrohlich ist. Dazu kommen Vertrauensverluste zwischen der EU und ihren Bürgerinnen und Bürgern. Dazu kommt auch eine Krise des sozialen und inneren Friedens. Das ist eine bedrohliche Situation.
Nigel Farage ist ein ehemaliges Mitglied der UK Independence Party (UKIP) und seit 1999 Mitglied des Europäischen Parlaments. Farage war einer der größten Befürworter des Brexits.
Sie spielen auf das Ende der Geschichte an, von dem man um 1990 gesprochen hat. Sie reden heute von Vertrauensverlusten. Auf welche Ereignisse ist dieser Wandel zurückzuführen?
Ich habe die These des Fukuyama immer für absurd gehalten. Weil das menschliche Leben nicht so ist, geschweige denn das gesellschaftliche, dass man den Punkt erreicht, wo etwas unstrittig von allen als selbstverständlich betrachtet wird. Das hat er aber, glaube ich, mittlerweile auch selbst realisiert.
Fukuyama vertrat die heute oft zitierte These, mit dem Fall der Sowjetunion hätten sich Demokratie und Marktwirtschaft endgültig etabliert. Das „Ende der Geschichte“ sei erreicht. „Illiberale“ Tendenzen in Europa seit der Finanz- und Währungskrise bewiesen das Gegenteil, so Kritiker.
Worauf führe ich diesen Wandel zurück? Es liegen ein paar Fehler in der Grundkonstruktion der EU. Wir haben versucht, sie im Verfassungsprozess an der Wurzel anzugehen. Da gibt es aber die starke Macht der nationalen Regierungen, die eine Vetomacht haben und in der Regierungskonferenz sowieso alleine über den Gang der Dinge entscheiden. Ich zähle die nationalen Regierungen zu den inneren Feinden der europäischen Einigung. Man müsste die europäische Demokratie noch einmal zu buchstabieren beginnen, damit wir uns vergewissern, was wir eigentlich damit meinen. Die EU in all ihren Verträgen beruht auf der Demokratie, den Grund- und Freiheitsrechten, der Rechtsstaatlichkeit, der Gewaltenteilung. Ein Minister steigt hier als Exekutive ins Flugzeug und steigt in Brüssel als Legislative aus.
„Heute behandelt der europäische Rat die Kommission wie eine Auftragsverwaltung“
Im Ministerrat.
Im Ministerrat aber auch und im Europäischen Rat, der im Vertrag überhaupt keine Machtgrundlage hat, der eigentlich nur ein Gremium für Innovation und richtungsweisende Überlegungen sein sollte. Ich habe ihn damals schon eine power in progress genannt: langsame Überschreitung der Grenzen, langsame Machtausdehnung. Heute behandelt der Europäische Rat die Kommission wie eine Auftragsverwaltung und hat viel Macht an sich gerissen, eine riesige Ratsverwaltung aufgebaut. Das alles findet entgegen der Natur der EU unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, einschließlich der Gesetzgebung. Zwei wichtige Elemente der Demokratie – Gewaltenteilung und öffentliche Gesetzgebung – sind also im Europäischen Rat nicht gegeben. Da öffnet sich ein Raum für Kuhhandel und irrationales Vorgehen, das nicht mehr unter öffentlicher Kontrolle steht. Die Regierungen kommen in den Rat und sagen: “Was bekomme ich, wenn ich hier zustimme? Sonst lege ich ein Veto ein.”
Das betrifft auch die Frage der Einstimmigkeit. Demokratie verträgt keine Einstimmigkeit. Die Einstimmigkeit ist ein Erpressungs- und Nötigungsinstrument. Eine Demokratie muss letztlich auf der Basis eines Verfassungsrahmens Mehrheitsentscheidungen herbeiführen. Die gibt es im Rat in vielen Bereich immer noch nicht. Das erschüttert das Urvertrauen der Menschen in ihre Repräsentation. Jetzt komme ich auch zum Begriff der Republik, einer res publica, die nicht auf den Staaten und Völkern, sondern auf den Bürgerinnen und Bürgern beruht. Ich kritisiere hier ganz bewusst den Rat. Es gibt andere sehr demokratische Institutionen, wie zum Beispiel das Parlament.
Für das Parlament fordern Sie das Initiativrecht.
Ja. Obwohl ich mir hier selber auch schwertue, weil es in der Praxis anders abläuft. Das Europäische Parlament kommt, wenn man es erlebt und darin arbeitet, einem Idealparlament überraschenderweise sehr nahe. Es ist ein reines Arbeitsparlament, mit unglaublichen Möglichkeiten und Ressourcen ausgestattet, sich selbst aus Australien Sachverständige einzufliegen, wenn es notwendig ist. Anders als hierzulande im Nationalrat dauert eine Ausschusssitzung nicht zwei Stunden mit 40 Tagesordnungspunkten, sondern mindestens zwei Tage für vier Tagesordnungspunkte, die ausführlich behandelt werden. Etwa 90 Prozent der Regierungsvorlagen an den Nationalrat werden ohne einen Beistrich zu ändern durchgewinkt. Genau das umgekehrte Verhältnis herrscht im Europäischen Parlament. Die Vorlagen der Kommission werden zu 90 Prozent verändert. Im Grunde hat das Parlament das Initiativrecht natürlich schon. Es kann eine Aufforderung an die Kommission schicken und diese, wenn die Kommission diese Aufforderung verweigert (was sie normalerweise nicht tut), auch entlassen. Das darf man nicht vergessen.
Sie fordern in Ihrem Manifest auf der einen Seite mehr direkte Demokratie, auf der anderen wollen Sie die Europäische Union „handlungsfähiger“ machen. Wie geht das zusammen?
Da unterstellen Sie ja, dass direkte Demokratie jemanden handlungsunfähig machte.
Darauf spiele ich an.
Ich wüsste nicht, wie Sie darauf kommen. Die Vorgänge werden zumeist enorm beschleunigt, wenn die direkte Demokratie einschreitet. Das können Sie sich beim Brexit ansehen. Das Referendum war ein kurzer Prozess. Der parlamentarische und parteipolitische Prozess hat um vieles länger gedauert.
Direkte Demokratie beschleunigte also solche Verfahren. Ob hier eine überlegte, fundierte Entscheidung getroffen würde, weiß ich nicht.
Ja, das ist eine andere Geschichte.
Das ist allerdings die zweite Seite der Medaille der direkten Demokratie.
Jetzt waren wir bei der Geschwindigkeit. Diese sehe ich nicht als großes Problem. Die Frage der Demagogie des Populismus, des Interessenausgleichs und der sozialen Gerechtigkeit ist eine ganz andere. Ich bin kein undifferenzierter Herold der direkten Demokratie. Ich bin ein vehementer Vertreter der repräsentativen Demokratie, weil sie sorgfältige Überlegungen ermöglicht, die unendlich wichtig sind für den Interessenausgleich.
Wörtlich bedeutet Demagogie „Verführung des Volkes“.
Sie waren vor dem EU-Beitritt Österreichs einer seiner größten Kritiker. Was hat Sie damals zu diesem Standpunkt bewegt?
Viele der Kritikpunkte, die ich soeben aufgezählt habe. Wir hatten damals eine Broschüre; auf der stand: „Ja zu Europa. Nein zur EU.“ Man kann das auch als enttäuschte Liebe bezeichnen, wenn Sie so wollen. Wir waren gegen die Form, die die europäische Integration angenommen hatte, eine des Geldes und des Marktes: keine Verfassung, keine Transparenz, keine Grund- und Freiheitsrechte. Da sieht man auch, wofür ich mich nach dem EU-Beitritt eingesetzt habe und was sich seither verändert hat.
Ist die EU ein Wirtschaftsprojekt?
Nein, für mich war sie das nicht. Für mich war sie ganz wesentlich ein Friedensprojekt. Ich habe mich immer gegen den Versuch des historischen Materialismus und des Marxismus gewehrt, dahinter nur nackte wirtschaftliche Interessen auszumachen. Wer die Gründung ganz genau studiert und die Dokumente seit 1947 bis zum Verfassungskongress Den Haag liest, wer Monet liest und sich ansieht, wo er im Krieg war, wo er die ersten Entwürfe für die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl gemacht hat, dann steht man doch vor einem Friedensprojekt in stato nascendi, also von Anfang an.
Braucht es für das Friedensprojekt EU auch das Wirtschaftsprojekt EU?
Hätte es nicht gebraucht, wie Monet ja selbst auch einmal gesagt hat: „Könnte ich es noch einmal machen“, sagte er, „finge ich es kulturell an und nicht wirtschaftlich.“ Das war auf gewisse Weise eine Perversion, die zwei Stationen hatte: die Römischen Verträge und die Eurosklerose. 1947 gab es einen Verfassungskonvent, der auf der Rede Churchills basierte, sogar mit Unterstützung der Amerikaner! Die Überwindung des Nationalismus war von Anfang an das Ziel. Wissend, dass alle Kriege der vorangegangenen zweihundert Jahre auf den Nationalismus zurückzuführen waren. Dann scheiterte die politische Union schon in den 50er Jahren, genauso wie die Verteidigungsunion. Es gab immer große Vorhaben, die Vision der Vereinigten Staaten von Europa umzusetzen.
Einige Jahre rund um 1980, in denen die europäische Integration, besonders in Wirtschaftsfragen, ins Stocken geriet.
Teilen Sie diese Vision?
Nein, aus bestimmten Gründen. Ich setze aus gutem Grund den Begriff der Republik dagegen. Das sind Begriffe des 19. Jahrhunderts, die Missverständnisse ohne Zahl produzieren.
Noch einmal zurück zur Wirtschaft: Denken Sie einmal an die Nationalstaatsbildung in Europa zurück. Was war der unmittelbare Anlass? Alle 40 Kilometer gab es eine Zollschranke. Die Waren verteuerten sich also alle 40 Kilometer und führten so die moderne Massenproduktion ad absurdum. Auch die Nationalstaatsbildung in Europa begann also über die Wirtschaft, insofern war das auch für die EU naheliegend. Im Nachhinein muss man sagen: Dort, wo die Einigungsschritte der wirtschaftlichen Zwangslogik folgten, verliefen sie relativ schnell und friktionsfrei und landeten im Gemeinschaftseuropa, im hard law, quantitativen Bestimmungen, Sanktionen und Gerichtsverfahren. Dort, wo man also etwas wirtschaftlich durchsetzen wollte, entstand das Gemeinschaftsrecht. Wo die wirtschaftliche Zwangslogik zu Ende war, hat man die offenen, intergouvernementalen Regierungsmethoden eingeführt. In der Krise, in einem weiteren Schritt, wurde das sogar aus der EU ausgelagert, in zwischenstaatliche Verträge. Denken Sie an den europäischen Stabilitätsmechanismus. Man hat sich die Kommission als Organ entliehen für die Troika, die noch aus der Europäischen Zentralbank und dem Internationalem Währungsfonds besteht. Da hat der EuGH einen Riegel vorgesetzt. Sie haben gegenüber Griechenland die Grundrechte-Charta außer Kraft gesetzt, weil die Troika ja außerhalb der EU tätig sei. Der EuGH hat hier gesagt: Wo die Kommission tätig wird, hat sie sich an die Grundrechte zu halten.
Manche Entscheidungen, z.B. in der Außen- und Sicherheitspolitik, obliegen nach wie vor den Mitgliedstaaten und verlangen deshalb die Einstimmigkeit.
2005 ist die von Ihnen angesprochene Verfassung in niederländischen und französischen Volksabstimmungen gescheitert. 2007 folgte dann der Beschluss des Vertrags von Lissabon. Würden Sie diesen als EU-Verfassung bis auf den Namen über die technokratische Hintertüre bezeichnen, nachdem es in Volksabstimmungen nicht sein wollte?
Ja, natürlich. Ich bin damals als erster Vizepräsident des Verfassungsausschusses nach Berlin gefahren, um mit den Deutschen zu verhandeln. Ein Staatssekretär hat mich im Außenamt empfangen und zu mir gesagt: „Ich weiß, Sie möchten eine kurze, klare, straffe Verfassung, die man am besten in Marmor schlagen kann. Sie werden alles kriegen, was Sie wollen, aber Sie werden es in einer hässlichen, unansehnlichen Form kriegen.“ Die Menschen hätten natürlich alle die Möglichkeit gehabt, den Vertrag von Lissabon zu studieren. Man hat 95 Prozent der 2004 „gescheiterten“ Verfassung übernommen und in den Vertrag von Lissabon gegossen. Insofern ist die Verfassung auch nicht gescheitert. Was man im Vertrag von Lissabon weggelassen hat, war die Fahne, die noch immer flattert, und die Hymne, die noch immer gespielt wird. Die Priorität des europäischen vor dem nationalen Recht hat man aus dem Text herausgenommen und in eine Fußnote, allerdings mit derselben Rechtsverbindlichkeit, heimlich untergebracht. Ich habe das immer mit der Flucht des französischen Königs verglichen, der, in einem Misthaufen versteckt, über die Grenze gebracht wurde. Der König wurde gerettet, aber er musste in einem Misthaufen verborgen werden. Das sind genau die Brüche zwischen Union und Bürger, von denen ich spreche. Das kann man als Notmaßnahme rechtfertigen, wissend, dass zum Beispiel in Frankreich Präsident Chiracs innenpolitische Spielchen eine Rolle gespielt haben. Aber den Vorgang kann man benennen, wie Sie ihn in Ihrer Frage formuliert haben.
Viele junge Wähler haben ihr gesamtes Leben in der EU verbracht. Was haben Sie vor, für diese jungen Menschen zu tun?
Eigentlich zielt alles, was ich tue, auf diese jungen Menschen ab. Die entfaltete europäische Demokratie – die erste supranationale Demokratie der Weltgeschichte – zu entwickeln, ist ein Jahrhundertprojekt. Ich kämpfe dafür, dass die jungen Leute erkennen, dass sie nicht ihrer Alterssicherheit entgehen, weil die Alten alles auffressen, sondern, weil beide gegeneinander ausgespielt werden.
„Man darf ja auch einmal polemisch sein: Älter wird die Gesellschaft, weil die Jungen keine Kinder mehr kriegen.“
Inwiefern?
Da müssen Sie sich nur die Pensionsreform, die dafür notwendigen Verfassungsänderungen und die Kürzungen ansehen, die teilweise auch für Leute durchgeführt werden, die schon in Pension sind. Gleichzeitig kommt bei den Jungen aber nichts an.
Muss nicht eine Politik für die Jungen auch die langfristige Finanzierbarkeit des Pensionssystems sicherstellen?
Die Finanzierbarkeit ist immer so eine Frage. Da gibt es immer zwei Antworten darauf: Die Ökonomen aus der neoliberalen Ecke machen einen sakrosankten Deckel bei Beiträgen und staatlichen Zuschüssen und sagen dann: „Wie wird der Rest verteilt?“ Politik ist natürlich ganz etwas anderes als das, was in den Köpfen der Ökonomen vor sich geht. Deshalb lassen sich Politiker gerne von Ökonomen leiten, weil sie dann ihre ideologischen Ziele unter einer angeblich naturwissenschaftlichen Autorität durchsetzen, was natürlich totaler Unsinn ist. Man darf ja auch einmal polemisch sein: Älter wird die Gesellschaft, weil die Jungen keine Kinder mehr kriegen. Die Älteren haben zwei Zusatzaufgaben erfüllt: Sie haben ihre Eltern versorgt und sie haben ihre Kinder großgezogen. Angenommen wir haben eine Generation, die sich weigert, Kinder zu kriegen; wird dann den Eltern, die beide Aufgaben erfüllt haben, etwas abgezogen? Wir leben in einem Kontinent, in dem über eine Billion Euro pro Jahr an die Kinder vererbt werden, in weiten Teilen ohne jede Steuer. Das macht die Ungerechtigkeit aus, dass es hier keinen Ausgleich gibt. Ohne, dass es im Generationenvertrag auch nur berücksichtigt wird, werden astronomische Summen pro Jahr an die nächste Generation weitergegeben.
Es werden auch astronomische Summen im Pensionssystem an die ältere Generation weitergegeben.
Aber nicht im Entferntesten in diesen Verhältnissen. Die Schüsselregierung hat gesagt, wir könnten uns dieses Umlagesystem nicht mehr leisten. Sie hat sich das von ihren Hausökonomen begründen lassen und die Pensionen gekürzt. Nicht einmal, sondern mehrfach. Gegen jede Lebensberechnung. Wenn wir dieses Vertrauen nicht mehr haben, dass jeder sagen kann: Ich habe eine gute Lebensaussicht, wenn ich 65 Jahre alt bin und ich meinen Teil geleistet habe. Wenn wir das bei der heutigen Generation einreißen lassen, wird es die nächste mit Sicherheit noch stärker treffen. Die Gesellschaft hat sehr wohl die Möglichkeit, ein anderes Modell zu wählen. Wenn Hochwasser kommt, stecken wir in die Bachverbauungen mehr Geld. Wenn die Gesellschaft älter wird, müssen wir halt auch mehr Geld dort hineinstecken.
Österreichische Bundesregierung von 1999–2007 unter der Führung des damaligen Bundeskanzlers Wolfgang Schüssel.
Hier würden eben jene Ökonomen erwidern, dass es einer verantwortungsvollen Finanzierung der Pensionssysteme bedürfe. Sie sprechen öfters auch von Sozialtransfers innerhalb der Europäischen Union. Wäre eine Sozialunion nicht ein Anreiz für Mitgliedstaaten, keinen verantwortungsvollen Umgang mit Geldern zu pflegen?
Sie dürfen ja alles sagen. Aber es erstaunt mich schon, dass junge Leute die neoliberale Diktion so durchsetzen.
Keine Sorge, wir beherrschen auch die gegenteilige Diktion und werden sie Ihren Kontrahenten entgegensetzen. Es ist dieser aber ein häufiger Kritikpunkt, mit dem wir Sie gerne konfrontieren würden.
Der Advocatus Diaboli also (lacht). „Verantwortungsvoll“ ist ein Begriff, der weder ökonomisch noch wissenschaftlich ist. Dieser enorme, autoritäre Druck, den eine gewisse Schule der Ökonomie auf die Politik heute ausübt, indem sie sich als Naturwissenschaft geriert, die sie nicht ist! Weil sie voll mit Wertungen arbeitet und der Politik einen Wertekanon aufzwingt, der nicht notwendigerweise human, moralisch oder eben verantwortungsvoll ist. Wir können entscheiden, was wir mit dem Geld machen. Die Politik, die Gesellschaft, die Demokratie kann frei entscheiden, was sie mit dem Geld macht. Das nennt man Prioritätensetzung. Wollen wir mehr Geld in die Bildung? Ich sage Ja. Wollen wir mehr Geld in die sozialen Sicherungen? Ja. Wollen wir einen Finanzausgleich in Europa, weil ein Gemeinwesen ohne sozialen Ausgleich nicht existieren kann? Hier bin ich anderer Meinung als manche Ökonomen, weil ich die politische Einigung Europas als Bildung eines Gemeinwesens betrachte und nicht eines Marktes. Wenn wir ein Gemeinwesen bilden wollen, dann haben wir auch andere Gesichtspunkte zu berücksichtigen: zum Beispiel die Homogenität des Wohlstands und eine soziale Solidarität. Wenn wir das wollen, müssen wir einen Finanzausgleich machen. Haben Sie das Gefühl, dass zwischen Burgenland und Vorarlberg verantwortungslos gehandelt wird?
Im Bundesländer-Ausgleich?
Genau. Ich rede von einem europäischen Finanzausgleich – nicht nur von einer Transferunion – der organisiert ist wie der zwischen dem Burgenland und Vorarlberg. Ich habe noch nie von jemandem gehört, der behauptet hätte, das wäre verantwortungslos.
Wieso sollten – und das ist sehr wohl auch ein Streitpunkt zwischen österreichischen wie auch deutschen Bundesländern – reiche Mitgliedstaaten wie Österreich oder Deutschland einem solchen Finanzausgleich zustimmen?
Weil sie ein europäisches Gemeinwesen wollen. Das ist eine logische Konsequenz daraus. Angesichts ökonomischer Ängste, angesichts der Dinge, die in Griechenland oder Rumänien passiert sind, brauchen wir einen Finanzausgleich, der an Bedingungen gebunden ist und nicht einfach als Überweisung funktioniert.
Wechseln wir das Thema. Ihre Initiative fordert Anstrengungen in der Klimapolitik. Durch welche Maßnahmen soll die EU den Klimawandel bekämpfen?
Auch das ist ein Projekt, das uns noch über die nächste Generation hinaus beschäftigen wird. Aber auch hier liegen wir weit hinter den realen Geschehnissen zurück. Wir haben uns ja schon fast alle auf Zielvorgaben am Pariser Klimagipfel geeinigt, Trump ausgenommen. Im Grunde bräuchten wir nur die Ziele, auf die wir uns geeinigt haben, nur vielleicht in einer noch kürzeren Zeit. Es geht nun darum, den üblichen Prozess der Verschleppung, Nicht-Einhaltung und Nicht-Verwirklichung zu stoppen.
Wie wollen Sie das konkret durchsetzen?
Einmal durch öffentliches Interesse und öffentlichen Druck. Wo etwas außerhalb des öffentlichen Fokus gerät, versuchen alle sofort die Ziele zu verwässern. Es braucht hier ein öffentliches Bewusstsein für die Notwendigkeit des Klimaschutzes, so wie wir dieses Bewusstsein auch für eine europäische Demokratie und die soziale Gerechtigkeit in der Zukunft eines Gemeinwesens brauchen. Die Menschen lassen sich nicht von der ungebremsten, unzivilisierten Globalisierung plattmachen! Irgendwann werden die Konflikte kommen, siehe Gelbwesten.
„Es gibt in der Politik Orte, bei denen ein Argument noch Gewicht hat und nicht nur parteipolitische Kalküle, irgendein Hader, irgendwelche Feindbilder oder Versprechungen. Das Europaparlament ist so ein Ort.”
Man kann als Linker in Österreich bei den Europawahlen sowohl die Sozialdemokraten als auch die Grünen wählen. Wozu braucht es Ihre Initiative?
Das berührt die grundsätzliche Frage, warum ich überhaupt kandidiere und was das hier eigentlich soll. Ich halte den Aufstieg des Nationalismus, der autoritären Kräfte, des Rassismus, der illiberalen Demokratie und die Bedrohung des Rechtsstaates für eine eminente Gefahr. Das sind die Dämonen des 19. Jahrhunderts und die Gründe, aus denen die großen Kriege entstanden sind. Ich bin vollkommen vor den Kopf geschlagen, dass ich dem in meinem Leben noch einmal begegne. Am Anfang des Aufstiegs der extremen Rechten bis hin zum Aufstieg des Faschismus stand das Versagen der linken, liberalen und demokratischen Parteien.
Wieso scheint die europäische Opposition noch nicht so recht vom Fleck zu kommen. Oder anders gefragt: Wie geht er der europäischen Sozialdemokratie?
Also bei der Sozialdemokratie ist es ja noch ein Stück tiefgründiger, weil da nicht nur die Schwäche vorkommt. Man denke etwa an González, Blair oder Schröder. Die waren die Speerspitze dieser Entwicklung. Die Sozialdemokraten waren nicht nur ein schwacher Widerstand – sie haben den Neoliberalismus verbreitet, sie haben ihn als Naturgesetz anerkannt.
Auch Sie propagieren die Soziale Marktwirtschaft.
Ja. Für die Sozialdemokraten ist die soziale Frage aber wie ein Parfum geworden, das bei jeder Wahlkampfveranstaltung ins Publikum gesprüht wird. Was ist aber, wenn ich dann frage: „Herr Schieder, sagen Sie mir doch, sind wir für den Mindestlohn? Sind wir für das Gemeinschaftsrecht im Sozialen, für soziale Kompetenzen, weil der Nationalstaat der Globalisierung nicht entgegentreten kann, geschweige denn sie zivilisieren kann? Sind wir für einen Finanzausgleich in Europa? Na, dann gibt’s auf alle diese Fragen nur ein: „Na das natürlich nicht.“
Wie unterscheiden Sie sich von den Grünen?
Wir unterscheiden uns in vielen Sachen gar nicht. So lange sie mit meinem Programm in die Wahl ziehen, das immerhin schon 20 Jahre alt ist, wird uns da nicht allzu viel unterscheiden. Was bei den Grünen gerade passiert, ist ein Bruch. Den habe ich aber nicht zu verantworten, sondern den haben, wenn man es personifiziert, Eva Glawischnig und Konsorten vor 20 Jahren zu verantworten.
Auch unser heutiger Bundespräsident Van der Bellen?
Ich will das jetzt nicht ins kleinste Detail ausführen. Aber sicher geht das über Glawischnigs Zeit hinaus. Schauen wir uns zum Beispiel die Konstellation von damals an. Die war klassisch sozialdemokratisch: Van der Bellen, der ja sogar aus der Sozialdemokratie kam und die moderne Wirtschaftslehre vertreten hat, war Wirtschaftssprecher und Karl Öllinger Sozialsprecher. Dabei hat doch tatsächlich niemand gefragt, wie es in einer Partei geht, diese Wirtschafts- und Sozialpolitik gleichzeitig zu formulieren? Für die eine Zielgruppe Van der Bellen und für die andere Öllinger. Das gleiche Spiel haben wir auch bei der SPÖ gesehen. Sie hatten den Josef Cap für die eine Fraktion und den Franz Löschnak für die andere. Das Soziale, zusammen mit Ökologie und Demokratie, stand zu meinem Bedauern nie im Zentrum der Politik.
Verstehen sie sich als Österreicher oder Europäer?
Sind Sie ein Mann oder sind Sie blond?
In der Reihenfolge, würde ich sagen.
(lacht) Okay, dann bin ich ein Europäer und ein Österreicher.
Also schließen Verbundenheit mit der eigenen Nation und Verbundenheit mit der Europäischen Union einander nicht aus? Viele sehen das so.
Das ist Unsinn, das gegeneinander auszuspielen. Der Mensch hat eine ganze Fülle unterschiedlicher Identitäten. Es kann jemand Österreicher, Tiroler, Katholik, Europäer, weiß oder schwarz, Mann oder Frau gleichzeitig sein. Unsere Identität besteht aus vielen Dimensionen und Elementen. Selbstverständlich sind wir trotzdem alle Europäer. Es gibt Leute, die meinen, Europa sei eine Konstruktion. Ich sage, das ist Unsinn. Der Nationalstaat ist eine Konstruktion. Europa ist und war immer ein Kontinent. Ein Kontinent, der zwar eigentlich eine zerrissene Halbinsel von Asien ist, aber trotzdem immer ein geistiger Kontinent war. Den Begriff des „Kontinents“ haben ja auch die Europäer erfunden: In strenger aristotelischer Logik haben sie gesagt: „ein Kontinent ist eine Landmasse, die von allen Seiten vom Meer umgeben ist.“ Dann haben sie ironischerweise gleich am Anfang eine Ausnahme gemacht und Europa an die erste Stelle gesetzt. Trotzdem hat die ganze Welt anerkannt, dass es ein eigener Kontinent ist. Weil es eben ein geistiger Kontinent ist. Was uns ausmacht, ist die gemeinsame Ideengeschichte. Das ist das, was uns im Innersten zusammenhält. Was heute ein Belgier, ein Niederländer oder ein Österreicher ist, war vor 200 Jahren noch etwas vollkommen anderes. Das ist die Konstruktion.
Man könnte jetzt natürlich auch sagen, dass diese europäische Geschichte genauso Narrativ und Konstruktion ist wie jene des Nationalstaates.
Jede Geschichte ist natürlich in einem gewissen Sinne Konstruktion, aber die unveränderlichen Elemente des europäischen Narrativs sind doch wesentlich höher als die eines Nationalstaates.
Diese Elemente des Nationalstaates sind für viele äußerst wichtige Indentitätsbezüge.
Weil es um mythische, irrationale Identitäten geht, die ja etwas mit Militär, mit Krieg und blinder Feindschaft zu tun haben. Was passiert, wenn dieser ganze Wahnsinn kulminiert, kann man am Beispiel des Ersten und Zweiten Weltkriegs sehen.
Was sagen Sie Wählern, die Sie wegen Ihrer Einstellung zu dieser Identitätsfrage nicht wählen?
Dass sie gut daran tun. Ich werde meine Einstellung nicht ändern. Wenn sie nach dieser Geschichte des 18.,19., und 20. Jahrhunderts noch immer sagen, die nationale Identität sei ihnen so wichtig, dass jemand der sich der europäischen Identität bekennt, nicht wählbar ist…
…Auch wenn ein guter Teil der Bevölkerung diese Einstellung vertritt?
Dann wird mich eben ein guter Teil der Bevölkerung nicht wählen. Ich glaube aber nicht daran, wenn doch 58 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher sagen, sie wollten die Vereinigten Staaten von Europa. Ich sage Ihnen aus meiner tiefsten Überzeugung nach 25 Jahren Europapolitik: Wer sich der europäischen Einigung in den Weg stellt, sind nicht die Bürgerinnen und Bürger. Das sind die nationalen Eliten.
Die in einer Demokratie aber eben aus jenen Bürgerinnen und Bürgern bestehen.
Aber die dann bisweilen auch ihre eigenen Interessen höher stellen als die Repräsentation. Was hat selbst ein Joschka Fischer einmal gesagt? Er könne sich die Mehrstimmigkeit in der Außenpolitik und einen europäischen Außenminister nicht vorstellen, weil Herr Schröder nie auf den roten Teppich in Delhi verzichten würde.
Obwohl Joschka Fischer, mit Verlaub, ein berühmter Querulant und für polemische Aussagen bekannt war.
Bisweilen.
Angenommen, sie schafften es am 26. Mai ins Europaparlament: Was wäre Ihre erste Initiative?
Auch im Europäischen Parlament wird der Widerstand schwächer – der Esprits, für Europa wirklich auf die Barrikaden zu gehen. Ich würde versuchen, über die Fraktionen hinaus, eine Gruppe führender Abgeordneter zu bilden, wie sie schon einmal im Parlament existiert hat, um eine große europäische Reform anzugehen. Ich wäre für einen direkt gewählten Konvent, der einen neuen Verfassungsentwurf macht. Dann klären wir im Übrigen auch für die Briten, wohin es gehen soll. Im Grunde sind wir nämlich auch nicht viel besser als sie. Wir sind genauso hilflos in der Beantwortung ihrer Fragen, wie sie hilflos vor unseren Fragen stehen. Wenn sie nämlich fragen: „Bei welcher Union sollen wir denn bleiben? Wie soll die Europäische Union in 20 Jahren aussehen? Wo soll sie denn hingehen, diese Reise?“
Wohin soll diese Reise gehen?
Zu einer Republik Europa.
Was meinen Sie genau mit dem Begriff der Republik? Der Begriff ist ja mehrdeutig und kann wörtlich für die „öffentliche Sache“, das Gemeinwesen (engl. Commonwealth), oder auch eine Staatsform stehen.
Die Republik: ein politisches Gemeinwesen. Die Republik ist die Ordnung, die Demokratie hervorbringt.
Eine etwas deterministische Ansicht?
Ja, wenn Sie so wollen. Die Republik ist eine Ordnung, die Demokratie garantiert. Durch Gewaltenteilung und durch Öffentlichkeit. Der Souverän sind nicht Staaten oder Völker, sondern die Bürgerinnen und Bürger. Das hat auch nicht ein Staatsvolk – im germanischen Sinne des Volkes – zur Grundlage, sondern die Bürgerschaft. Das erste Ziel der Republik ist nicht der Kompetenzstreit. Es kommt vielmehr darauf an, dass alle Kompetenzen, die wir an Europa abgeben, auch demokratisch verwaltet sind.
Würden Sie sagen, Demokratie ist ein Wert an sich?
Das ist eine schwierige Frage. Demokratie ist ein Wert an sich in der Beziehung, dass sie die einzige Staatsform ist, die die Würde des Menschen erachtet. Der Anspruch, sich selbst zu regieren und unter dem Gesetz zu stehen, dass man sich selbst gegeben hat, das ist der einzige Vorgang, der die Würde des Menschen respektiert.
Sie kennen Ihren Rousseau. Sie haben gut 25 Jahre im Europaparlament verbracht. Was haben Sie gelernt?
Ich habe unendlich viel gelernt. Es gab aber sicher eine ganz große Erfahrung: Es gibt in der Politik Orte, bei denen ein Argument noch Gewicht hat und nicht nur parteipolitische Kalküle, irgendein Hader, irgendwelche Feindbilder oder Versprechungen. Unabhängig davon, ob jener, der das Argument anbringt, von einem kleinen oder großen Staat ist oder welcher Partei er angehört! Das Europaparlament ist so ein Ort. Wenn Sie ein Argument vorbringen und es stichhaltig ist, hat es die Chance auf eine Mehrheit. Das ist ein demokratisches Urerlebnis, dass ich im Nationalrat nie erlebt habe. Diese Tiefe eines Diskurses zeigt auch, wie tief die europäische Idee tatsächlich ist. Ich habe zwar keine Angst um diese Idee, aber zum Abschluss will ich doch noch sagen: Ideen sind in der Vergangenheit schon für Generationen verschwunden und geschwächt oder zerstört worden. Diese Gefahr gibt es auch heute noch.