Wo er Recht hat,
hat er recht

VON LIVIA LANDSKRON

„EuGH stärkt Kundenrecht beim Kauf von Matratzen“, lautet eine aktuelle Schlagzeile in einer Tageszeitung. Es ist ja schön, dass in Luxemburg über den Konsumentenschutz beim Matratzenkauf entschieden wird – aber bevor man die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) versteht, schläft man ja ein, bevor die bestellte Matratze überhaupt nach Hause geliefert ist. Was genau gehört überhaupt zum Unionsrecht? Wie setzt sich der EuGH zusammen? Was bedeuten seine Entscheidungen für uns Unionsbürger?

„Ein Wirrwarr an Verordnungen und Richtlinien!”

Das EU-Recht gliedert sich in zwei Ebenen. Einerseits gibt es das Primärrecht. Es ist das ranghöchste Recht der EU und kann ausschließlich durch die Mitgliedstaaten geändert werden. Andererseits gibt es das Sekundärrecht. Das wird nicht von den Mitgliedsstaaten gemacht, sondern von den Institutionen der EU. Es ist schwer, Parallelen dafür in nationalen Rechtssystemen zu finden, weil sowohl Bundesverfassung als auch Bundesgesetze von demselben Organ beschlossen werden. Die EU ist also gewissermaßen ein Sonderfall.

Das Primärrecht besteht zunächst aus den Gründungsverträgen wie dem Vertrag von Maastricht, die das Verhältnis zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten festlegen. Im Laufe der Zeit wurden sie redigiert und angepasst, etwa durch den Vertrag von Lissabon. Jedes Mal, wenn ein neuer Staat Mitglied der Union wird, wird ein neuer Vertrag über diesen Beitritt abgeschlossen, der dann ebenfalls zum Primärrecht zählt – so zum Beispiel der Beitrittsvertrag von Österreich im Jahr 1995. Zu guter Letzt ist die Charta der Grundrechte, die Grund- und Menschenrechte enthält, ebenso Teil des Primärrechts.

Das Primärrecht legt damit das Fundament dafür, dass die Organe der EU nun ihrerseits Rechtsakte, sogenanntes Sekundärrecht, erlassen können. Dabei sind genaue Aufgabenbereiche und Kompetenzen definiert, die ihnen die Mitgliedstaaten im Primärrecht zugeteilt haben. In diesem Rahmen können nun Rechtsakte – z.B. im Zuge des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens – gesetzt werden, wobei drei EU-Institutionen involviert werden: die Kommission, der Rat der EU (auch „Ministerrat” oder nur „Rat”) und das Europäische Parlament.

Im Sekundärrecht unterscheidet man zwischen Verordnungen und Richtlinien. Wenn man gemütlich bei McDonald’s sitzt und sich wundert, weshalb die geliebten Pommes neuerdings nicht mehr so dunkel frittiert sind, gibt ein EU-Rechtsakt darüber Aufklärung. Die „Pommes-Verordnung” gilt nämlich – so wie jede andere Verordnung auch – ab ihrem Inkrafttreten automatisch, unmittelbar und in einheitlicher Weise in allen Mitgliedstaaten. Das bedeutet, dass auch bei McDonald’s in Spanien die Portion Pommes nun heller ist. Außerdem erlässt die EU zahlreiche Richtlinien. Heiß debattiert wurde zuletzt vor allem die Urheberrechtsrichtlinie. Darin werden Vorgaben definiert, die die Mitgliedstaaten in der Folge durch nationale Regel­­ungen umzusetzen haben. Die EU wählt als Rechtsakt Richtlinien, wenn sie den Mitgliedstaaten zwar Ziele vorschreiben will, ihnen allerdings weitgehend überlassen möchte, wie sie diese Ziele verwirklichen.

„Wozu ein Gerichtshof, wenn wir doch in unserem eigenen Staat Gerichte haben?“

Die EU ist eine Institution, in der zahlreiche nationale Rechtssysteme aufeinandertreffen und Organe tätig werden. Wenn Unklarheit oder Uneinigkeit in einer Rechtsfrage besteht, dann braucht es eine unabhängige und unparteiische Instanz, die darüber entscheidet. Dass es so ein Rechtssprechungsorgan gibt, ist ein weiteres Element, das die Umsetzung des Rechtsstaatlichkeitsprinzips verdeutlicht.

Der Staat schafft verbindliches Recht, das von seinen Organen eingehalten werden muss. Willkürliches Handeln ist somit verboten.

Innerhalb der EU übernimmt diese Aufgabe der Gerichtshof der Europäischen Union mit Sitz in Luxemburg. Er gliedert sich in zwei Gerichte: das Gericht und den Europäischen Gerichtshof, die letzte Instanz. Den beiden Institutionen sind unterschiedliche Aufgaben zugeteilt. Während der Europäische Gerichtshof beispielsweise in Vorabentscheidungsverfahren urteilt, entscheidet das Gericht unter anderem in wettbewerbsrechtlichen Sachen. Jeder Mitgliedstaat entsendet einen Richter in den Gerichtshof und zwei in das Gericht. Das grundlegende Ziel des EuGH ist die einheitliche Interpretation des EU-Rechts.

Es sind vor allem die nationalen Gerichte, die im Rahmen ihrer Rechtsprechung das EU-Recht anwenden. Wenn sie eine Rechtssache entscheiden müssen und dabei Fragen zur Auslegung von EU-Rechtsvorschriften haben, können sie sich an den EuGH wenden. Dieser Prozess heißt Vorabentscheidungsverfahren. Hier wird die Zusammenarbeit zwischen EuGH und nationalen Gerichten deutlich. Zum Beispiel wandte sich der österreichische Oberste Gerichtshof im Zuge eines Verfahrens um die Entscheidung über den Karfreitag als Feiertag an den EuGH zur Vorabentscheidung.

Wenn Rechtsvorschriften aus europäischen und nationalen Rechtsordnungen aufeinanderstoßen, ist nicht klar, welche Vorschrift nun Vorrang genießt. Im Jahr 1996 war es für Frauen in Deutschland noch gesetzlich verboten, Militärdienst zu absolvieren. Als es einer deutschen Bürgerin deshalb verwehrt wurde, zum Militär zu gehen, hat sie Klage bei einem deutschen Gericht erhoben. Dieses Gericht hat dem EuGH die Frage vorgelegt, ob das deutsche Gesetz der europäischen Richtlinie über die Gleichbehandlung von Männern und Frauen entgegensteht. Der EuGH entschied, dass das deutsche Grundgesetz in der Festlegung, dass „Frauen auf keinen Fall Dienst an der Waffe leisten” dürften, dem Gleichbehandlungsgrundsatz der Union widerspricht. Nach dem Urteil wurde die Passage im Grundgesetz geändert.

Der EuGH entscheidet auch in Vertragsverletzungsverfahren.

Ein Vertragsverletzungsverfahren wird eingeleitet, wenn ein Mitgliedstaat die Vorschriften der Verträge der Union missachtet hat.

Ein Beispiel ist das Verfahren, das die Kommission gegen Polen initiiert hat. Polen hatte zuvor eine Justizreform eingeleitet und dabei zahlreiche Richter frühzeitig in Pension geschickt. Die Unabsetzbarkeit und Unabhängigkeit der Richter ist ein grundlegendes Element des Rechtsstaatlichkeitsprinzips. Richter dürfen also grundsätzlich nicht einfach so in Pension geschickt werden. Polens Vorgehen ist für das gesamte europäische Projekt gefährlich.

In den EU-Verträgen, in denen die Institutionen geschaffen wurden, haben sich die Mitglieder dazu entschieden, einen Gerichtshof einzurichten, dessen Urteilen sie sich unterwerfen – ein weiteres wichtiges Element eines demokratischen Rechtsstaats. Mitglieder, die Urteilen des EuGHs nicht Folge leisten, haben mit Geldstrafen zu rechnen, die natürlich der Steuerzahler des betreffenden Landes tragen muss.

Darüber hinaus haben nicht nur nationale Gerichte die Möglichkeit, den EuGH anzurufen, sondern auch Unionsbürger. Wenn sie einen Schaden erlitten haben, der durch eine Handlung oder die Untätigkeit einer EU-Institution verursacht wurde, so kann die Einzelperson direkt vor dem Gerichtshof Klage erheben.

„Der Gerichtshof macht ja schon selbst das Recht!“

Befassen wir uns nun mit dem oftmals kritisierten Punkt, dass der EuGH extensive richterliche Rechtsfortbildung betreibt und sich vom Gesetzeswortlaut zu weit weg bewegt. Wenn der EuGH EU-Recht auslegt, stellt er oftmals fest, dass Lücken bestehen und gewisse Bereiche nicht oder nicht eindeutig geregelt sind.

Die Tätigkeit von Gerichten, wenn sie ein Urteil fällen, dabei aber über die Gesetzesauslegung hinausgehen und dadurch neues Recht schaffen.

Solche Lücken entstehen unter anderem, weil die Mitgliedsländer sich nicht einigen konnten oder weil bei der Erlassung der Rechtsakte nicht an alle möglichen Anwendungsbereiche oder Situationen gedacht werden kann, die zu regeln sind. Das kann insbesondere durch technologische Neuerungen der Fall sein. Im Zuge der Interpretation und Auslegung der Regelungen kann es dann bis zu einem gewissen Grad zwangsläufig zur Rechtsfortbildung kommen. Das ist allerdings kein Spezifikum des EU-Rechts, vielmehr tritt dieses Phänomen in allen Rechtsordnungen auf. Obwohl es dem EuGH gemäß dem Primärrecht keinesfalls zusteht, Recht zu schaffen, wird seine Rechtsprechung dennoch als Quelle des „subsidiären Rechts“ der EU gesehen.

Recht, das weder Primär- noch Sekundärrecht ist, aber unterstützend herangezogen wird. Darunter fällt auch Völkerrecht.

In seinen bisher mehr als 25.000 Entscheidungen hat der EuGH den Unionsbürgern viele weitere Rechte zuerkannt, die er aus Rechtsvorschriften abgeleitet hat. Ein Beispiel sind die Fluggastrechte. Wer kennt es nicht: Bereits Stunden vor Abflug am Flughafen sein, damit man unter keinen Umständen seinen Flieger verpasst. Voller Aufregung steht man ungeduldig am Gate, bis der Bildschirm plötzlich aufblinkt: „Flug verspätet!” Der EuGH hat in einem Urteil festgestellt, dass man in gewissen Fällen als Fluggast eine Entschädigung von der Fluggesellschaft verlangen kann. Heutzutage kann es auch schnell passieren, dass ein Bild von einem selbst – vielleicht sogar von der letzten Feier mit Freibier – ins Internet gelangt. Durch eine Entscheidung des EuGH hat man nun das Recht, von einer Suchmaschine wie Google zu verlangen, dass ein auf einen selbst bezogener Eintrag gelöscht wird.

Die Entwicklung in der Rechtsprechung der EU zeigt, dass die Rechte der Unionsbürger durch den EuGH geschützt und gestärkt werden. Und dank der neuesten Entscheidung des EuGH können wir nun beruhigt unsere Matratzen online bestellen, sie zu Hause auspacken, Probe liegen und, wenn sie uns doch nicht gefallen, einfach wieder zurückschicken.