„…dann bin ich bereit,
die Regeln zu brechen“

Die Spitzenkandidatin der LINKEN über kaputte Strumpfhosen, grenzenlose Bewegungsfreiheit und die größte Lüge der Welt.

VON DINA KÖRZDÖRFER UND LUCIUS MALTZAN

Am Empfang der Parteizentrale der LINKEN unweit des Berliner Alexanderplatzes herrscht Verwirrung: Zu wem wollen Sie? Frau Demirel. Dann die Erleuchtung: Ach, Sie meinen Özlem? Genau.

Wir entdecken Özlem, Spitzenkandidatin der LINKEN für die Europawahl, auf einem Plastikstuhl im Innenhof. Der frostige Aprilmorgen kann sie von einer Zigarettenpause im Freien offenbar nicht abhalten. Eine Mitarbeiterin der Pressestelle unterbricht sie pünktlich und führt uns in ihr Büro.

Özlem ist zurückhaltend und überaus gelassen. Erst, als der Kaffee verteilt ist und die Tonaufnahme beginnt, sprudelt es nur so aus ihr hervor. Ihre Sätze beendet sie immer genau dann, wenn ihr der Atem ausgeht. Wir bleiben etwas länger als vereinbart.

Frau Demirel, wie geht es Europa?

Nicht so gut, würde ich sagen. Man muss sich nur die reale Situation in der EU vom Brexit bis zur sozialen Schere ansehen, um zu erkennen, dass es nicht gut um die EU steht.

Beim Lesen Ihres Parteiprogramms fällt auf, dass Europa darin namentlich kaum vorkommt. Was bedeutet es denn für Sie, Europäerin zu sein?

Erstmal einmal muss man feststellen, dass Europa viel mehr als die Institution der EU ist. Zweitens finde ich persönlich das Europaparlament sehr spannend, weil man mit verschiedenen Ländern, Kulturen und Sprachen in Berührung kommt. Man nimmt mehr verschiedene Perspektiven wahr, die man vielleicht mit der eigenen deutschen Brille nicht immer gesehen hat. Das ist wirklich sehr spannend, vielfältig und bereichernd. Man muss dabei aber auch viel Empathievermögen haben. Dann versteht man zum Beispiel, warum in Griechenland und in Spanien die Wut auf die europäische Realpolitik eine ganz andere ist, als man das in Deutschland oder Österreich wahrgenommen hat. Denn dort hatte es brutale Auswirkungen. Es hat die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten befeuert und zu Privatisierungswellen geführt. Das war natürlich fatal. Das muss nicht heißen, dass man die Meinungen anderer ausnahmslos für richtig hält. Aber die eigene Brille abzunehmen und die Perspektive zu wechseln, das ist schon eine Kunst, die in der Politik manchmal zu wenig verbreitet ist.

Natürlich gibt es viele verschiedene Spaltungstendenzen in unserer Gesellschaft. Aber entscheidend ist die soziale Frage.

Die spanische und die deutsche, die finnische und die rumänische Perspektive sind also unterschiedlich. Gibt es trotz alledem eine gemeinsame europäische Perspektive? Oder gar eine europäische Identität, gegründet auf unserem kulturellen Erbe?

Natürlich gibt es dieses kulturelle Erbe. Für mich ist die Geschichte Europa mit Aufklärung, Humanismus und Fortschritt verbunden. Die größten Dichter und Denker, darunter auch Karl Marx, kommen aus Europa. In der Geschichte Europas geht es um erfolgreiche Kämpfe für soziale Errungenschaften und Menschenrechte. Es klafft aber eine gewaltige Kluft zwischen diesen fortschrittlichen Werten und der Realpolitik der EU. Da werden unsere Werte mit Füßen getreten. Das gilt zum Beispiel für die Situation am Mittelmeer, wo Geflüchtete sterben und Flüchtlingshelferinnen kriminalisiert werden. Auch die neue Aufrüstungswelle in Europa ist fatal: In der Geschichte dieses Kontinents hat der Aufrüstungswahn nie zu Verbesserungen für die Menschen, sondern immer nur zu Verarmung und Verelendung bis hin zum Tod im Kriegsfall geführt.

Europäische und nationale Identitäten scheinen derzeit andere Kategorien zu überlagern. Aber wie steht es um die soziale Identität? Sehen Sie beispielsweise Anzeichen für eine globale Solidarität der Arbeiterklasse?

Die Frage der Identität ist tatsächlich wichtig. Identität wird anhand verschiedener Faktoren wahrgenommen, aber natürlich ist die soziale Zugehörigkeit entscheidend für die Identitätsbildung. Als Gewerkschafterin sehe ich, wie Kollegen von Amazon in verschiedenen Ländern für bessere Arbeitsbedingungen und damit gegen den reichsten Mann der Welt, Jeff Bezos, demonstrieren. Bei Ryanair haben Kolleginnen mit ganz unterschiedlichen Pässen und Herkünften für progressive Forderungen und höhere Löhne gekämpft. Genau das will ich stärken. Natürlich gibt es auch andere Spaltungstendenzen in unserer Gesellschaft, zum Beispiel entlang der Nationalität, Religion, der sexuellen Orientierung oder der Geschlechtszugehörigkeit, wo auch vieles überwunden werden muss. Entscheidend ist aber die soziale Frage. Ich gebe immer gerne das Beispiel von meinem Opa, der als Gastarbeiter hierhergekommen ist. Mein Opa stammt aus Ostanatolien und ist Analphabet. Er spricht die deutsche Sprache nicht gut, aber er war Arbeiter in einer Fabrik und hatte dieselben Sorgen wie sein deutscher Kollege – nennen wir ihn mal Hans. In seiner Lebensrealität, von der Kinderversorgung über die Vereinbarkeit von Familie und Beruf bis zur Existenzsicherung, hatte er viel, viel mehr gemeinsam mit dem Hans, obwohl sie vielleicht nicht einmal dieselbe Sprache konnten, als mit einem türkischen Fabrikbesitzer. Diese Klassenzugehörigkeit bestimmt unser Leben viel mehr, als wir das wahrnehmen. Öffentlich wird aber dann viel lieber diskutiert, wie es mit der Religion und anderen Sachen aussieht. Aber das ist falsch: Wir dürfen die Identität nicht nur im Kleinen betrachten, sondern müssen wahrnehmen, dass unser Lebensalltag von ganz anderen Dingen bestimmt ist.

Nun erleben wir momentan aber das Gegenteil: Auch diejenigen Wählerinnen, deren ökonomische Interessen Sie zu vertreten behaupten, wenden sich rechtem Gedankengut zu. Woher stammt dieser neue Bedeutungsgewinn von Herkunft und Nation?

Die Menschen wollen Verbesserungen ihrer Lebenssituation auf der Ebene, die das regelt. Und wenn zum Beispiel der Nationalstaat für die Arbeitsmarktpolitik zuständig ist, wenden sie sich natürlich an diese Ebene. Das hat nichts damit zu tun, dass ihr Bewusstsein von Nationalismus geprägt ist. Aktuell erleben wir aber, dass die Schere von Arm und Reich immer weiter auseinander geht. Wir erleben, dass die Mieten steigen. Wir erleben, dass auch Menschen aus der Mittelschicht ihre Existenz nicht mehr so sichern können, wie sie es früher konnten. Sie haben Existenzängste. Und die Rechten schaffen es nun, diese Ängste zu kanalisieren und sagen: „Das ist der Migrant, der Türke, der Syrer, der Moslem, der dir die Arbeitsplätze wegnimmt und die Mieten hochtreibt.“ Tatsächlich hat das aber gar nichts mit den Leuten zu tun, die aus einer anderen Kultur hierherkommen, weil ihre Lebensgrundlage dort zerstört wurde. Es hat damit zu tun, dass sich die Konzerne eine goldene Nase verdienen, aus der Verantwortung stehlen und kaum Steuern zahlen, während die Mittelschicht und die Armen immer mehr zur Kasse gebeten werden. Dagegen wollen wir vorgehen, indem wir sagen: Wir müssen die soziale Frage verbinden mit verschiedenen Menschheitsfragen dieser Welt und da klare Verbesserungen durchsetzen. Und auf europäischer Ebene wollen wir die Rahmenbedingungen vom Kopf auf die Füße stellen und nicht länger zusehen, wie die Freiheiten des Marktes und des großen Geldes über die Freiheiten der Menschen gestellt werden.

Was ist ein Handelshemmnis? Ich wäre ein Handelshemmnis, wenn ich als Arbeiterin gute Löhne und faire Arbeitsbedingungen will. Das ist doch irgendwie Quatsch!

Kommen wir zu den möglichen Verbesserungen. Was wollen Sie also konkret sozialpolitisch ändern?

In der Sozialpolitik wollen wir europaweite armutsfeste Mindestlöhne. Was heißt das? Man wird oft gefragt, ob Bulgarien und Deutschland dann denselben Mindestlohn einführen sollen. Nein, wir wollen es anhand der Wirtschaftsstärke und der Kaufkraft der Länder machen. 60% des Medianeinkommens muss in jedem Land der EU als Mindestlohngrenze gelten. In Deutschland wären das tatsächlich 12 Euro pro Stunde.

Das Medianeinkommens ist nicht mit dem Durchschnittseinkommen zu verwechseln: Wenn man eine Gruppe von Menschen nach der Höhe ihres Einkommens in eine Reihe stellt, ist das Medianeinkommen das Gehalt derjenigen Person, die in der Mitte steht. Das Durchschnittseinkommen dagegen ist die Summe aller Gehälter geteilt durch die Anzahl der Personen und liegt normalerweise deutlich höher.

Zudem wollen wir Mindestsicherungssysteme in allen europäischen Ländern schaffen. In Deutschland wären das 1050 Euro im Monat. Wir erleben, dass der EU-Binnenmarkt für Steuerdumping für Konzerne und  Lohndumping missbraucht wurde und daran muss sich etwas ändern. Wir wollen auch nicht, dass die EU den kommunalen Wohnungsbau einschränkt und Heuschrecken auf unseren Wohnungsmarkt einlädt. Und wir wollen, dass die EU endlich Steuergerechtigkeit herstellt. Google hat zum Beispiel auf jede Million Euro Gewinn 50 Euro Steuern gezahlt – da zahlt jeder Bäckermeister mehr. Deshalb müssen wir Schlupflöcher schließen und Mindestregelungen zur Besteuerung festlegen. Wenn man dagegen alles dem freien Markt überlässt, dann profitieren die Großen, Superreichen und Mächtigen auf Kosten der Armen und Mittelschichten.

Auch den Freihandel kritisieren Sie in Ihrem Wahlprogramm heftig. Was können Sie ihm denn Gutes abgewinnen?

Bei den europäischen Abkommen mit anderen Kontinenten kann man eigentlich nicht von Freihandelsverträgen sprechen, sondern von Missbrauch der Sozial-, Arbeits- und Umweltstandards. Wir wollen, dass Mindestregelungen bei Freihandelsverträgen durchgesetzt werden. Auch bei TTIP ging es ja darum, sogenannte Handelshemmnisse abzubauen. Was ist ein Handelshemmnis? Ich wäre ein Handelshemmnis, wenn ich als Arbeiterin gute Löhne und faire Arbeitsbedingungen haben will. Das ist doch irgendwie Quatsch! An dieser Ausrichtung der Politik muss sich etwas ändern. Ich finde, dass die neoliberale Politik, die meinte, dass der Markt alles regelt, grandios gescheitert ist. Das sehen wir doch an jeder Ecke.

TTIP (kurz für „Transatlantic Trade and Investment Partnership“) sollte ein umfassendes Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA werden. Seit 2017 ruhen die Verhandlungen.

Die Verbesserung der Lebensbedingungen in Europa und anderswo lässt sich also nicht auf den Freihandel zurückführen?

In der Tat werden Sie in diesem Wahlkampf von Frau Merkel und wahrscheinlich auch Frau Barley (der Spitzenkandidatin der SPD, d. Red.) hören, dass Deutschland profitiert hat von der EU und dem europäischen Binnenmarkt. Ja, die deutsche Wirtschaft hat profitiert, aber ich würde Frau Merkel und den anderen die Frage stellen: Wer ist hier Deutschland? In Deutschland wurde mit dem Hinweis auf die europäische Konkurrenz einer der größten Niedriglohnsektoren geschaffen, wofür sich Gerhard Schröder sogar gerühmt hat. Das heißt nicht, dass wir hier nominal niedrigere Löhne als in Bulgarien haben.

Nominale Löhne bezeichnen ganz einfach die Höhe des Lohns: 10 Euro ist ein höherer nominaler Lohn als 5 Euro. Allerdings kann sich eine Angestellte in Paris für 10 Euro deutlich weniger kaufen als ein Handwerker in Vilnius für 5 Euro. Das wird bei der Berechnung des Reallohns miteinbezogen, der den Lohn ins Verhältnis zur Kaufkraft vor Ort setzt.

Aber im Verhältnis zur Produktivität haben wir definitiv Niedriglöhne, und das muss sich ändern. Insofern: Ja, Wohlstand gerne für alle. Aber wenn jeder fünfte Mensch in der EU von Altersarmut bedroht oder betroffen ist, 112 Millionen Menschen hier in Armut leben und die Kinderarmut steigt, dann stelle ich tatsächlich die Frage: Um wessen Wohlstand geht es hier? Die Kernfrage lautet doch, ob die Menschen für die Wirtschaft arbeiten oder das Wirtschaftssystem den Menschen dienen soll. Da haben wir uns, anders als die anderen Parteien, ganz klar positioniert und darauf bin ich stolz.

Wenn Menschen Medizin studieren wollen, dann sollten sie auch Medizin studieren können.

Nehmen wir an, wir gingen auf die Straße und fragten die Menschen: Wollen Sie höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten? Mehr staatliche Leistungen? Mehr Umweltschutz? Die allermeisten würden bejahen. Es stellt sich die Frage, weshalb all diese Anliegen, so sie denn realisierbar sind, nicht umgehend umgesetzt werden.

Das ist eine Frage von Kräfteverhältnissen, Bewusstsein und Machtgefälle. Momentan schreiben ja nicht Arbeiterinnen und Gewerkschafter die Gesetze in den Parlamenten, sondern es sind Lobbyisten, die ihre Interessen durchsetzen. Wir haben eine Wirtschafts- und Finanzkrise erlebt, in der mit öffentlichen Steuergeldern Banken gerettet wurden. Und die Bankenreform, die dann angekündigt wurde, wurde tatsächlich von den Lobbyverbänden der Banken geschrieben. Heute haben wir dadurch mehr Milliardäre, deren Vermögen noch größer  geworden ist, aber auf der anderen Seite auch mehr Menschen, die von Armut betroffen sind. Das ist doch fatal. Wir wollen die Kräfteverhältnisse verändern und gemeinsam mit den Menschen auf der Straße stärker Druck aufbauen.

Ist das aber alles gleichzeitig möglich? Oder kann ein solch radikaler Systemwechsel nicht auch zum Beispiel dazu führen, dass Arbeitsplätze ins Ausland verschwinden?

Diese Abwanderungsargumentation finde ich immer witzig. Wenn man europaweit Mindeststandards festlegt, werden bestimmt nicht alle Konzerne versuchen, außerhalb Europas zu produzieren und dann über Freihandelsverträge in den europäischen Binnenmarkt zu kommen. Niemand verlässt diesen riesigen, kaufstarken Wirtschaftsraum. Die Frage ist: Lassen wir uns immer wieder von solchen Erpressungsversuchen klein machen? Oder wollen wir mal einen Wechsel wagen? Wir behaupten nicht, dass alles automatisch kommt. Es braucht Kämpfe, damit sich etwas verändern kann. Man merkt den Druck auf der Straße schon, zu dem wir uns als LINKE auch solidarisch zeigen. An den Fridays for Future-Demonstrationen sieht man doch, dass ein Paradigmenwechsel stattfindet. Veränderungen kommen nicht von heute auf morgen, aber es kann sie geben und sie sind im Sinne der Menschen.

Und Sie sind sich sicher, dass dieses alternative Wirtschaftssystem funktionieren würde und die Menschen für eine „radikale Änderung unserer Lebensweise“, wie es Ihr Parteiprogramm formuliert, offen sind?

Wir müssen ernsthaft darüber nachdenken, was wir wollen. Wenn uns auf die Forderung nach Gerechtigkeit für alle und sozialer Teilhabe entgegnet wird, dass das nicht im Sinne der Wirtschaft sei, dann stelle ich die Frage, ob unsere Wirtschaft im Sinne der Menschen ist. Das muss man sich trauen können und klare Antworten darauf geben. Natürlich ist es nicht sinnvoll, wenn Wohnungen privatisiert werden und die Mieten steigen. Das ist aber momentan real in Deutschland.

Eine Stelle in Ihrem Wahlprogramm dürfte junge Menschen besonders interessieren: der Wegfall der Zulassungsbeschränkungen für Hochschulen. Kann dann jeder Medizin studieren?

Wenn Menschen Medizin studieren wollen, sollten sie auch Medizin studieren können. Ich finde das immer sehr spannend: Es gibt immer diese Klauseln mit dem Hinweis: „Wir wollen den Arbeitsmarkt regulieren.“ Interessanterweise stellt man dann 10 Jahre später oft fest: „Oh, wir haben Ärztemangel“, „Oh, wir haben Lehrermangel“. Wie wäre es denn gewesen, wenn man vielleicht mehr Menschen studieren gelassen hätte, die das wegen des NCs nicht konnten, die aber gute Mediziner geworden wären? Stattdessen reden wir jetzt darüber, dass der Ärztemangel im ländlichen Raum eine große Katastrophe ist. Für mich ist Bildung sowieso mehr als nur eine Ausbildung für den späteren Berufsweg. Für mich ist Bildung auch Entfaltung, Selbstverwirklichung und Erweiterung des Horizonts. Und wenn Menschen in bestimmten Feldern studieren möchten, dann sollten sie diese Möglichkeit auch haben.

In jedem BWL-Studium lernt man: Die Ressourcen sind beschränkt und die Bedürfnisse unbeschränkt. Das ist die größte Lüge der Welt!

Die Forderung nach Abrüstung ist in Ihrem Programm sehr dominant. Machen wir uns in Europa, einem Paradies der Menschenrechte, durch eine einseitige Abrüstung nicht auf lange Sicht verwundbar?

Ob Europa tatsächlich ein Paradies für Menschenrechte ist, würde ich mit einem Fragezeichen versehen. Natürlich gibt es hier den Rechtsstaat und fortschrittliche Rechtsgrundlagen. Wenn man sich jedoch ansieht, was im Mittelmeer passiert, oder nach Polen, Ungarn und Italien blickt, würde ich das infrage stellen. Aber zur Abrüstung: Nein, es geht uns nicht darum, Europa unsicherer zu machen. Uns geht es darum, den Rüstungswahn zu stoppen. Im Moment werden in Europa Milliarden in Aufrüstung investiert, auch weil die EU-Verträge es vorsehen. Um eine Zahl zu nennen: Zusätzlich zu den Nationalen Rüstungs- und Millitärausgaben gehen jetzt durch den europäischen Verteidigungsfonds 7 Milliarden jährlich in Aufrüstungsprojekte. Das ist die Hälfte dessen, was man bräuchte, um die akute Hungersnot in der Welt zu stillen! Wir reden über Flüchtlinge, Eskalation und Kriege. Wie wäre es denn, wenn wir die akute Hungersnot stillen oder regionale Förderprojekte in der EU ausbauen mit dem Geld, das wir sonst in Killerdrohnen stecken? Das wäre viel effektiver und würde mehr Sicherheit bringen. Außerdem wissen wir aus der europäischen Geschichte, dass Zeiten, in denen ein Wettrüsten stattgefunden hat, unserer Sicherheit nicht förderlich waren. Wer ist denn davon stärker betroffen als wir, dass Herr Trump den INF-Vertrag gekündigt hat und dass wieder ein Wettrüsten zwischen den USA und Russland stattfinden wird? Deutschland und Österreich sind mittendrin, wenn jemand irgendwann einmal auf den Knopf drückt. Daher müssen wir Druck machen, dass abgerüstet wird.

Der INF-Vertrag wurde 1987 zwischen den USA und der Sowjetunion geschlossen. Beide Seite versprachen damals, vollständig auf Mittelstreckenraketen (also Raketen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5500 Kilometern) zu verzichten. Anfang 2019 kündigte der amerikanische Präsident Donald Trump das Abkommen auf.

Sie haben ja konkrete Vorstellungen: die perspektivische Auflösung der NATO, ein Waffenexportstopp, die Beendigung aller Auslandseinsätze der Bundeswehr. Wir gehen damit wirklich kein Risiko ein?

Zunächst zu den Auslandseinsätzen: Die großen Interventionskriege unter deutscher oder europäischer Beteiligung haben die Situation in diesen Ländern ja eher verschlimmert. Gucken wir nach Afghanistan, in den Irak oder nach Libyen: Ist die Lage dort etwa besser geworden? Im Gegenteil. Mit Bomben und einem Regimewechsel von außen verbessert man nichts bei den Menschen. Außerdem wurde zum Beispiel im Irak ja nicht unsere Sicherheit verteidigt, sondern es wurden die wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen verschiedener Länder durchgesetzt. Steuerzahlerinnen zahlen irgendwelche Kriege für die Ressourcen von Wirtschaftsmächten oder Ölkonzernen. Das ist nicht mein Ansatz von Politik. Ich will eine friedliche Politik. Und ein erster und wichtiger Schritt wäre es, Waffenexporte zu stoppen.

Nun ist der größte imperiale Akteur ja nicht mehr der Westen, sondern China, das mit eindeutigen politischen Interessen in Afrika, Lateinamerika und anderswo investiert. In Ihrem Wahlprogramm taucht China allerdings kein einziges Mal auf. Haben Sie da keine Sorge?

Aber China greift ja gerade nicht militärisch ein und macht es auch sonst anders als die Europäische Union: Es setzt nicht irgendwelche Schwarze-Null-Programme auf, sondern investiert massiv und sorgt so für Aufschwung. Bei aller berechtigten Kritik an der chinesischen Politik, die ich teile: Da könnte man sich vielleicht einmal etwas abgucken.

Die „Schwarze Null“ ist ein Schlagwort für die deutsche Finanzpolitik der letzten Jahre. Sie zielt darauf ab, dass der Staat nicht mehr Ausgaben macht als er Einnahmen hat.

Das zweite ist die größte Lüge der Welt: In jedem BWL-Studium hört man diese Aussage: „Die Ressourcen sind beschränkt und die Bedürfnisse unbeschränkt.“ Das ist die größte Lüge, die es gibt! Ein ganz banales Beispiel: Wir brauchen nicht die 350. Variante einer Strumpfhose, die nach drei Tagen zerreißt, obwohl wir Strumpfhosen machen könnten, die nicht kaputt gehen. Das wäre besser für die Menschen und für die Umwelt, wird aber derzeit nicht praktiziert. Deshalb finde ich es wichtig, die Wachstumsfrage zu stellen. Ja, wir wollen auch Wachstum durch Investitionen und Fortschritt. Wir wollen aber nicht, dass einfach nur blind produziert wird und wir später nicht mehr wissen, wohin mit all den Müllbergen.

Würde man zum Beispiel ein Entwicklungsland in Afrika vor die Wahl stellen: Investitionen und Wachstum oder ein selbstgenügsames, ökologisches Wirtschaftssystem? Man darf vermuten, es würde Ersteres vorziehen.

Investitionen finden wir richtig, und wir lehnen Wachstum auch nicht pauschal ab. Aber wenn Sie Afrika schon ansprechen:  Handelsverträge mit Afrika führen ja nicht dazu, dass dort Wachstum entsteht. Sie führen dazu, dass beispielsweise unsere Hühnerreste in afrikanische Länder importiert werden und damit Kleinbauern vor Ort kaputt gemacht werden. Auch da ist die Frage, mit wem Sie sprechen: Mit den autoritären Regimen, denen egal ist, was mit den Kleinbauern passiert? Oder reden Sie mit der breiten Bevölkerung, die sich dafür aussprechen würde, Arbeitsplätze zu schaffen und ihre Agrarwirtschaft aufrechtzuerhalten?

Die Vision von einer Welt, in der sich alle frei bewegen können, ist nicht nur ferne Zukunftsmusik.

In diesem Zusammenhang findet sich eine weitere radikale Forderung in ihrem Wahlprogramm: „Offene Grenzen für alle“. Sehen Sie keinen Widerspruch zwischen sozialem Ausgleich und globaler Freizügigkeit?

Erst einmal: Ich kämpfe für eine Welt, in der sich jeder frei bewegen kann und niemand zur Flucht gezwungen ist. Das gehört für mich zusammen. Ich will Fluchtursachen ernsthaft bekämpfen. Die Realpolitik im Moment – seien es Waffenexporte, Klimawandel oder Freihandelsverträge – entzieht den Menschen in verschiedenen Ländern die Lebensgrundlage und zwingt sie, zu fliehen. Ich dagegen will Bewegungsfreiheit schaffen. Derzeit schaffen wir Bewegungsfreiheit für Kapital, Waren und Konzerne ohne Ende – ob im europäischen Binnenmarkt oder durch sogenannte Freihandelsverträge. Gleichzeitig schränken wir die Bewegungsfreiheit für Menschen immer mehr ein, indem wir entweder hohe Zäune bauen und den Zugang physisch verwehren, oder zu mehr Armut beitragen und somit für weniger Bewegungsfreiheit sorgen. Ich will die Bewegungsfreiheit für Menschen ermöglichen, indem ich sie sozial absichere. Denn echte Freiheit gibt es nur, wenn ich auch soziale Sicherheit habe.

Sie wollen also die Bewegungsfreiheit für alle, lehnen eine Einwanderungspolitik nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten jedoch ab. Halten Sie Einwanderung nach dem „first come, first serve“-Prinzip für vermittelbar?

Sehen wir uns zum Beispiel die sogenannte ‚Flüchtlingskrise‘ 2015 in Deutschland an. Frau Merkel hat die Grenzen aufgemacht und die Menschen hereingelassen. Als LINKE finden wir es richtig, Menschen in Not die Hand zu reichen, keine Frage. Aber was wurde dann gemacht? Man hat nicht dafür gesorgt, dass es mehr bezahlbaren Wohnraum und einen Mindestlohn für alle gibt, sondern Ausnahmen für Geflüchtete beim Mindestlohn geschaffen. Damit hat man dazu beigetragen, dass Menschen gegeneinander ausgespielt wurden. Dann kamen Rechtspopulisten und haben gesagt: Die nehmen euch die Wohnungen und Arbeitsplätze weg! Das ist falsch. Deshalb verbinden wir die Themen miteinander.  Wir wollen Menschen in Not die Hand reichen und diskutieren darüber nicht. Humanität und humanistische Politik ist für uns die Grundlage unserer Werte. Wir wollen nicht, dass Menschen gegeneinander ausgespielt werden. Und deshalb sagen wir: Wir müssen in eine soziale Infrastruktur investieren und gute Lebensstandards für alle Menschen schaffen, damit die autoritäre Rechte nicht stärker wird.

Wie soll diese Bewegungsfreiheit aber realisiert werden? Könnte eine unkontrollierte Auswanderung die Lage in den Herkunftsländern nicht verschärfen?

Wir müssen unterscheiden zwischen Menschen in Not, denen wir als LINKE die Hand reichen wollen, und der Vision von einer Welt, in der sich alle frei bewegen können. Diese Vision ist aber nicht nur Zukunftsmusik – sehen wir uns doch die Vergangenheit an: Bis in die 70er Jahre, glaube ich, gab es keine Visumpflicht, wenn man aus der Türkei nach Deutschland wollte. Vor noch längerer Zeit gab es das auch innerhalb von Europa nicht.  Das wurde alles erst später eingeführt, um im Sinne der Wirtschaft Arbeitskraft zu holen oder einzuschränken. Und das ist doch nicht richtig. Wir als LINKE wollen deshalb ein System schaffen, das gerechter ist. Und zur Frage der Abwanderung: Natürlich müssen wir vorher soziale Sicherungssysteme schaffen, damit Menschen nicht gezwungen sind, zu fliehen. Das gehört für mich zusammen: Ich will nicht, dass Menschen gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen, aber, dass Menschen, die das wollen, sich frei bewegen können. Und beides ist im Moment nicht gegeben. Deshalb kämpfe ich heute für einzelne Verbesserungen und Schritte, wie zum Beispiel die Schaffung legaler Fluchtwege oder überhaupt dafür, Menschen im Mittelmeer zu retten. Es kann doch nicht angehen, dass die EU dabei zuschaut, wie Menschen ertrinken und mit einem Despoten wie Erdogan (dem türkischen Präsidenten, d. Red.) paktieren. Und natürlich müssen reiche Industriestaaten aufhören, den ärmeren Ländern zum Beispiel in Afrika ihre natürlichen Schätze und Ressourcen wegzunehmen.  

Auffällig oft verwendet die LINKE die Begriffe „sozial“ und „ökologisch“ in unmittelbarer Nachbarschaft. Auch infolge seiner Energiewende hat Deutschland allerdings die höchsten Strompreise in Europa, der Kohleausstieg belastet besonders die strukturschwachen Regionen. Könnte eine radikale Klimawende nicht zu Lasten der Ärmsten im Lande gehen?

Deutschland hat so hohe Strompreise, weil auch wegen europäischer Regelungen nicht die Stadtwerke und die regionalen Stromversorger gestärkt wurden, sondern wir bei der Energieversorgung immer mehr eine Entwicklung hin zu Oligopolen haben. Und was machen Konzerne? Wofür existieren sie, was wollen sie? Sie wollen Rendite und somit natürlich hohe Preise und niedrige Löhne, um den Profit zu maximieren. Und deshalb fordern wir als LINKE einen sozial-ökologischen Wandel.

Ein Oligopol ist ein Zustand des freien Wettbewerbs, bei dem nur sehr wenige Anbieter um die Nachfrage konkurrieren. Ein Beispiel ist der deutsche Markt für Mobilfunk, den vier große Firmen unter sich ausmachen. Sie können die Preise dann höher ansetzen als in einem perfekten Wettbewerb mit vielen Konkurrenten, weil die Konsumenten bis zu einem gewissen Grad von ihnen abhängig sind.

Wir wollen dezentralere Strukturen, die öffentliche Hand stärken und die Wirtschaft demokratischer gestalten. Wir wollen Sozialgarantien für Menschen, die zurzeit in einem Kohlekraftwerk arbeiten oder Umschulungsmaßnahmen für jüngere Kolleginnen. Wir wollen eben nicht, dass die Energiewende auf die Konsumenten und Beschäftigten abgewälzt wird. Das haben die Grünen übrigens genauso gemacht – denen ist es egal, was mit den Menschen dort passiert. Das wollen wir nicht. Und man kann das schaffen, wenn man nicht jährlich Millionenbeträge als Rendite an Aktionäre auszahlen muss oder den Millionengehälter an Manager. Man könnte gute Beschäftigungsverhältnisse für die Beschäftigten und gute Preise für die Konsumenten schaffen – und trotzdem den ökologischen Wandel vorantreiben.

Wenn man sich die gegenwärtige Situation ansieht, dann ist es schon so, dass sich Demokratie und Kapitalismus ausschließen.

Sprachlich und inhaltlich zeichnet Ihre Partei ja ein eindeutiges Bild: Auf der einen Seite die Arbeiterklasse, auf der anderen die Großkonzerne. Besteht wirklich eine so eindimensionale Polarität zwischen Wirtschaftsinteressen und Menschenwohl?

Wenn ich von der Arbeiterklasse spreche, meine ich die Armen genauso wie die Mittelschicht und Akademiker, denn sie alle haben gemeinsame Interessen. Es sind 99% der Gesellschaft, deren Interessen auf der einen Seite stehen. Und das andere: Nicht ich bin in dieser Definition so radikal. Nicht ich möchte, dass es so ist. Das Problem ist, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse es so radikal machen. Nicht ich sage, ich hätte etwas gegen Konzerne, sondern das Problem ist, dass die Konzerne im Moment die Gesetze diktieren, wie etwa nach der Bankenkrise. Wenn immer nur eine Seite ihre Interessen durchsetzt, muss ich mich dagegen wehren. Dann muss ich die Arbeiterinnen, die Armen und die Mittelschicht dagegen organisieren und sagen: Die machen da gerade radikale Politik gegen uns, also treten wir dagegen an.

Welche Mittel sind dafür legitim? In Ihrem Wahlprogramm heißt es, Sie seien sogar bereit, „die Regeln zu brechen”. Was meinen Sie damit?

Die Verträge der EU verpflichten zum Beispiel die Mitgliedstaaten zum Aufrüsten….

Die Regeln ‚ändern‘ oder die Regeln ‚brechen‘?

Am liebsten ändern – aber wenn es nicht von heute auf morgen zu ändern ist, dann bin ich auch bereit, die Regeln zu (holt Luft) brechen. Zum Beispiel bei der Frage, dass die momentane Gesetzeslage Privatisierungen vergünstigt. Diese Regeln will ich ändern. Und wenn es nicht möglich ist, will ich trotzdem die Vergesellschaftung von großen Wohnkonzernen voranbringen.

Oder bei der 3%-Schuldenquote in der Fiskalpolitik: Wenn es einer Wirtschaft nicht gut geht, will ich trotzdem investieren können und bin bereit, diese Klausel zu brechen.

Dass Staaten nicht mehr als 3% ihres Bruttoinlandsprodukts an neuen Schulden aufnehmen dürfen, ist eines der sogenannten Maastricht-Kriterien. Sie sollen verhindern, dass einzelne Staaten in der Eurozone die anderen finanziell belasten und die Währung instabil wird.

Das ist vielleicht ein interessantes Beispiel: Die Begrenzung der Neuverschuldung soll ja gerade für finanzielle Stabilität sorgen. Kann man eine Schuldenkrise wirklich durch neue Schulden überwinden?

Ich kann nicht ganz nachvollziehen, worauf Sie hinauswollen. Was war denn die Situation in Griechenland? Griechenland hatte hohe Schulden an französische und deutsche Banken. Dann wurden dem Land Kredite mit Bürgschaften von uns Steuerzahlerinnen gegeben, die zu 95% in den Schuldendienst geflossen sind. Sie sind also gar nicht bei der griechischen Bevölkerung gelandet, sondern zurück an französische und deutsche Banken geflossen. Wir haben als einzige Partei gegen die Rettungspakete im Bundestag gestimmt und hätten gerne gesehen, dass Milliardäre und Spekulanten, die die Krise erzeugt haben, auch zur Kasse gebeten werden. Aber was ist das Ergebnis der europäischen Krisenpolitik bisher? Wir haben immer noch eine Jugendarbeitslosigkeit von 30% in Griechenland. Geht es der Bevölkerung besser? Nein! Haben wir weniger Milliardäre mit einem geringeren Vermögen? Nein, im Gegenteil.  Ich möchte auch keine Schulden, aber dann muss man aufhören, in aller Welt jederzeit alle Produkte zu verkaufen oder gar Kredite daran zu knüpfen, dass man zum Beispiel drei deutsche U-Boote kauft. Und wenn es der Wirtschaft nicht gut geht, muss man investieren, um die Binnenkonjunktur anzukurbeln.

Zu guter Letzt: Schließen sich Demokratie und Kapitalismus aus?

Im Kapitalismus hat das Kapital mehr Gewicht als die Interessen der Menschen. Wenn man sich ansieht, dass der freie Markt zurzeit nicht unsere Lebensgrundlagen schützt, sondern sie beschädigt oder angreift, dann ist es schon so, dass die beiden sich ausschließen, ja.